In Deutschland leben, grob geschätzt, etwa 1 Million Menschen vegan. Der Verzicht auf alle tierischen Produkte geht dabei oftmals über die Nahrungsmittel hinaus und bezieht Wollpullover oder Lederschuhe mit ein.
Die Gründe für die Ernährungsumstellung sind vielfältig. Tierwohl und Tierschutz spielen dabei ebenso eine Rolle wie eine Selbstmedikation gegen Hautprobleme oder Verdauungsbeschwerden. Die vegan-vegetarische Zielgruppe wird derzeit von sogenannten „Millennials“ dominiert.
Doch das ist längst nicht alles. Auf www.vegan.eu erfahren wir, dass diese besondere Form des Vegetarismus uns alle ansprechen soll. Ich zitiere von dieser Seite: „Um eine Annäherung an den tierproduktfreien Idealzustand zu erreichen, beschränkt sich die vegane Lebensweise oftmals nicht nur auf den eigenen Konsum, sondern ebenfalls darauf, durch unmittelbare Kommunikation und gesellschaftliches Engagement dazu beizutragen, die Abhängigkeit unserer gegenwärtigen Produktions- und Konsumbasis von tierischen Produkten abzubauen und dadurch den veganen Lebenswandel zu fördern.“
Damit wird, meiner Meinung nach, Veganismus zum Bestandteil einer sozio-ökonomischen Transformation. Soweit, so gut.
Allerdings sehe ich aus meiner Sicht eine Fehlentwicklung, die im Laufe der Zeit korrigiert wird. Damit meine ich den Versuch Fleischbezeichnungen auf vegane Produkte anzuwenden. Fleischersatzprodukte behielten den gewohnten Namen und sahen den Originalen aus tierischen Zutaten oft täuschend ähnlich. Beispielhaft möchte ich die vegane Fleischwurst oder das vegetarische Schnitzel nennen.
Alternativprodukten sollte sich die Chance bieten, Ernährungsgewohnheiten beizubehalten und gleichzeitig die Vorteile pflanzlicher Produkte zu nutzen. So kam es zum „Quasifleisch“ und der „Quasiwurst“. Damit musste sich bereits der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) befassen, der eine Verwechslungsgefahr für Verbraucher nicht ausschließen konnte.
Neben den im ersten Absatz genannten Triebfedern gibt es noch eine Reihe weiterer Gründe für eine, vielleicht auch nur zeitweise, Umstellung auf vegane Ernährung.
Bei den diesjährigen Chefdays in Berlin traute ich kaum meinen Ohren. Tim Raue, neue Nummer 1 der 100 Best Chefs Germany, verpasste sich eine zwei Wochen dauernde vegane Diät, da ihn seine Kochjacke zwickte. Den staunenden Zuschauern präsentierte er ein Gericht mit Topinambur, Soja und Erbse. Damit nicht genug. Er bietet mittlerweile in seinem besternten Berliner Restaurant ein veganes Menü an. Für mich Anlass genug für den veganen Selbsttest.
In vielen Interviews mit Spitzenköchen habe ich nach veganen Menüs gefragt. Regelmäßig wurde mit Verweis auf sehr aufwändige Kombinationen davon Abstand genommen. Vegetarisch ja, vegane Küche eher nein.
Bei Tim Raue sieht das ein bisschen anders aus. Das Kreativgenie lässt sich von hohem Aufwand nicht abschrecken.
Raues Küche geht einen, meiner Meinung nach, revolutionären Weg. Das gewohnte Aromenspiel von Süße, Schärfe und Säure bleibt unverändert im Mittelpunkt. Im weiteren Verlauf des Berichts gehe ich darauf nicht mehr ein, sonders setze es einfach als gegeben voraus.
Hinzu kommt eine Orientierung auf bereits vorhandene Kombinationen. Kreationen aus dem weiteren Menüangebot werden vegan adaptiert.
Meine Frau wählte das Signature-Menü und ich stellte mich der veganen Herausforderung. Herausforderung nenne ich es deshalb da ich, streng biologisch gesehen, eher den Omnivoren zugerechnet werden kann.
Die Küchengrüße, und das überraschte mich tatsächlich, waren bereits getrennt nach den beiden Menüs. Wobei auch die veganen Teile perfekt umgesetzt wurden.
(Zum Vergrößern bitte auf die Fotos klicken)
Beide Menüs starten mit:
Spitzkohl,
grüne Sancho-Beeren, Portulak
Krautsalat von Spitzkohl und türkischem Spitzpaprika, Püree von Kohl, Saft von Portulak und grünen Salaten und Limette, Zitronenöl, eingelegte Sancho-Beeren und karamellisierte Anissamen.
Bissfest mit süßlicher Schärfe starten beide Menüs mit einem veganen Gericht.
Tomate,
Sternanis, Kürbis
Gedämpfter Kürbis, Sud von Tomatenaft und Marukan-Reisessig und veganer Ghee aus Palmöl, Kompott von Tomate und Sternanis und grünem Anis
Der Kürbis war geschmacklich eher dezent, insgesamt gefiel mir das Aromenbild ausgezeichnet.
Im Signature-Menü gab es an dieser Stelle ein Lachsgericht, das ich gerne vorstellen möchte.
Ikarimi Lachs,
Tomate und Sternanis
In Öl konfiertes Ikarimi Lachsfilet, gebutterter Sud von Tomatensaft und Marukan Reisessig, Kompott von Tomate und Sternanis und grünem Anis
In Fettdruck habe ich diejenigen Komponenten deutlich gemacht, die in beiden Gerichten vorkommen und einen wesentlichen Bestandteil der Aromatik ausmachen.
Gewürztofu,
Mandarine, Süßkartoffel
Geschmorter Gewürztofu, Jus von 3 Jahre gereifter Mandarinenschale und geräucherter roter Chili, Süßkartoffelpüree, Paprika in Himbeeressig mariniert, Mandarinenfilet und Schale, Kalamansigelee aus Agar-agar, Acclakresse
Wachtel
Mandarine, Süßkartoffel
Wachtel in Orangenöl konfiert, Jus von 3 Jahre gereifter Mandarinenschale und geräucherter roter Chili, Süßkartoffelpüree, Paprika in Himbeeressig mariniert, Mandarinenfilet und Schale, Kalamansigelee, Acclakresse
Auch die Gerichte Gewürztofu und Wachtel sind eng verwandt. Wäre es nicht so genial, könnte man es fast als simpel bezeichnen.
Dennoch ist der Weg zum veganen Menü nicht einfach. Es wird getüftelt, probiert und wieder verworfen.
Ich kann mir lebhaft vorstellen wie nach dem Versuch-und-Irrtum-Prinzip gearbeitet wird. Diese heuristische Methode findet man nicht nur bei kreativen Köchen sondern auch in vielen anderen Bereichen. Hypothesenbildung und Erfahrungstransfer, man darf nie aufgeben.
Mit den beiden Beispielen sollte der Weg zu Raues veganer Küche ausreichend deutlich geworden sein. Daher kann ich mit dem Menü fortfahren.
Rosenkohl,
Banane, Kaffirlimette
Rosenkohlblätter und Sud, Bananenpüree, Kaffir-Limettenblatt, Räucheröl, wilde Erdnuss
Besonders auffallend ist auch hier die cremige Sauce mit intensivem Geschmack. Wer, wie ich, Rosenkohl nicht so besonders mag, wird mit diesem Gericht seine Abneigung verlieren.
Sichuan Topinambur,
chinesische Artischocke, rote Traube
Confierter Topinambur mit grünem und rotem Sichuanpfeffer mariniert, Feigenjus, Floregano, eingelegte Trauben und Traubengelee, chinesische Artischocken mit schwarzem Reisessig mariniert, Kastaniencreme.
Floregano stammt ursprünglich aus dem Mittelmeerraum und ist eine sehr geschmacksintensive Zutat. Die Blüte duftet nach frischem Oregano.
Ansonsten haben wir hier erneut ein großartig inszeniertes Gericht mit breitem Aromenspektrum und Geschmackstiefe.
Vordessert
Sakeschaum, klein gehackter Sellerie und Gurkenstückchen
Mango,
Passionsfrucht, Kaffirlimette
Schokoladen-Koi mit Zitronengrasmousse und Mango-Passionsfrucht-Kompott gefüllt, Kokosnuss-Koriandercreme, Macadamiakaramell, Limettensaft, Passionsfruchtsud und Baiser
Der Schokoladen-Koi war mir bereits bekannt. Ansonsten passte sich das Dessert mühelos in die Reihe großartiger Kreationen.
FAZIT:
Tim Raue ist immer für eine Überraschung gut. Das vegane Menü ist derart beeindruckend, dass ich mich nicht darüber wundere, dass viele Gäste das Menü wählen, auch wenn Sie sonst nicht zu den Veganern zählen.
Wie bei anderen Menüs steht auch hier die Hauptkomponente im Fokus, die Nebendarsteller auf den Tellern, machen das Vergnügen jedoch erst komplett.
Das bereits eingangs erwähnte Aromenspiel von Süße, Schärfe und Säure ist typisch für dieses Restaurant. Die Essignoten können auch mal deutlich spürbar bis leicht störend wirken. Letztlich eine Geschmacksfrage.
Marie-Anne Raue war wie gewohnt eine professionelle und außerordentlich freundliche Gastgeberin. Der Service tadellos, wie immer.
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